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Büchernörgele
"Die Toten vom Phoenix-See" von Gabriella Wollenhaupt
Eigentlich ist mein Motto "Nur loben", aber es gibt Umstände, die das unmöglich machen.
Dieses Buch hat mich zu Beginn empört und geärgert, denn es beleidigt intelligente Leser und ärgert Menschen, die einen positiven Bezug zum Dortmunder Stadtteil "Hörde" und - soweit noch vorhanden - zur damaligen Atmosphäre und der Arbeitswelt zu Zeiten HOESCH haben. Die werden darin dargestellt, als hätte die Autorin sie nur für die Darstellung der "Urbevölkerung" aus den Schmutzecken des Ruhrgebiets von 1950 geholt und danach aussterben lassen. Die Klischees vom Ruhrgebiet, die fast weg sind, werden erneut (schenkelklopfend und auflagesteigernd?) gedroschen und mühevolle Imagearbeit für diese wahrhaftig großartige Gegend wird zunichte gemacht.
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Beginnen wir mit dem ersten Beispiel im Jahr 2008, da wo alles beginnt in Günna Brummers Etablissement "Grotte" wo unter anderem die "Malocher vom Stahlwerk" ... "in Dortmund, Ortsteil Hörde. Da wo der Konverter jeden Abend abgefackelt wurde", ihrer Abendgestaltung nachgehen. Man muss wissen, dass die heute entweder tot, arbeitslos, Rentner oder Versicherungsangestellte sind und dass die Konverter nicht "abgefackelt" wurden, denn sie wurden am nächsten Tag wieder gebraucht.
Egal! Günna Brummers Etablissement "Grotte" ist den Ureinwohnern des Dortmunder Stadtteils Hörde zu schickimicki, obwohl dort abends talentlose Tänzerinnen mit überschminkten Krampfadern von der Poledance-Stange fallen. Sie bleiben lieber bei Pilsken und Buletten (die sie eigentlich Frikadellen nennen und nicht Buletten wie in Berlin). Viele missglückte Versuche Lokalkolorit heraufzubeschwören ziehen sich durch die Geschichte. Schlimm wird es, wenn Günna vermeintliche Ruhrpott-Ausdrücke untergeschoben werden. Es fehlte eine ordnende Hand, der authentische Sprache und Ausdrucksweise echter "Ruhris" geläufig ist.
Köstliche Irrtümer tun ein Übriges. Da wird die Mischung aus Cassis und Schaumwein statt als Kir Royal, was mir geläufig gewesen wäre, als "Soixante Neuf" bezeichnet. Gegoogelt erfährt man, dass das ein Slangausdruck für eine sexuelle Praktik ist oder einfach die Zahl "69" ist.
Die Hauptfigur Marie Bertoli wurde als Kind von einem Geistlichen missbraucht und die Tochter Olga, die sie, als sie 15 Jahren war, gebar, war das Ergebnis. Marie flüchtet aus Bayern nach Dortmund und versucht nun allein Olga, die mittlerweile 10 Jahre alt ist, durchzubringen. Sie schließt wertvolle Freundschaften mit gutwilligen Ureinwohnern und kommt einigermaßen zurecht.
Rund um den See gibt es Morde an Frauen. "Droht das Marie auch?", soll sich der werte Leser angstvoll fragen.
Am liebsten würde Marie den Priester anzeigen, aber laut ihrer und aller anderer Meinung im Buch, einschließlich der darin vorkommenden Juristen und Polizisten, ist Kindesmissbrauch nach 10 Jahren verjährt und eine Anzeige wäre nutzlos. Alles, was im Buch folgt, basiert darauf, dass der Päderast Strafe verdient hätte, aber demgemäß nicht mehr bestraft werden kann wegen Ablauf der Verjährung. Irrtum!.
Ich bin kein Jurist, fand aber mit Hilfe von Google, dass es bei Kindesmissbrauchs eine sogenannt "Ablaufhemmung" gibt, wodurch die Verjährungszeit erst dann losläuft, wenn eine festgelegte Anzahl von Jahren verstrichen ist, also das Opfer nicht mehr minderjährig, sondern erwachsen ist.
"Verjährung (schwerer) sexueller Missbrauch von Kindern, §§ 176, 176a StGB
Beim sexuellen Missbrauch von Kindern (unter 14 Jahren) ist zu unterscheiden:
[...]
c) Handelt es sich beim sexuellen Missbrauch um einen schweren Fall im Sinne des § 176a StGB, weil
der Täter entweder bereits in den letzten 5 Jahren wegen einer solchen Tat verurteilt worden ist
oder
der über 18 Jahre alte Täter den Beischlaf mit dem Kind vollzieht oder sonst Handlungen vollzieht die mit dem Eindringen in den Körper des Kindes verbunden sind
oder
der Täter das Kind in die Gefahr einer schweren seelischen oder körperlichen Gesundheitsschädigung oder Entwicklung bringt
beträgt die Verjährungsfrist 20 Jahre.
In allen drei Fällen gilt aber auch hier, dass die Verjährung frühestens mit Vollendung des 30. Lebensjahres beginnt."
(Veröffentlicht von Rechtsanwältin Natalia Chakroun auf anwalt.de)
Hätten Polizei und auch Staatsanwalt Max Fahidi das gewusst, dass die 25jährige Marie noch weiter 25 Jahre bis fünfzig Zeit gehabt hätte, hätten sie das tapfere Priesterlein noch belangen können.
Dem Buch fehlt jede Grundlage für die Fortführung. Doch es geschehen außerdem noch Frauenmorde rund um den Phoenix-See und man fragt sich als gefesselter Leser "Droht das auch Marie?".
Mich beeindruckte diese völlig unprätenziöse Schreibe an manchen Stellen so, dass ich laut lachen musste. Auf Seite 98 heißt es von einer Sekte, der der Priester nach dem Kassieren einer Schmiergeldzahlung ein Kloster verkauft hatte: "Schon bald gab es schwere Vorwürfe gegen die Sekte: Psychoterror, Gehirnwäsche, Kindeswohlgefährdung ... Selbstmode und Vergewaltigungen. Gruppensex sollte sozusagen Pflicht gewesen sein." Na, da hört sich doch alles auf!
Oder auf Seite 107, nachdem man als Leser vorsichtig in das Seelenleben des katholischen Priesters eingeführt wurde: "Im Traum dachte er oft an Marie. Sie wären das perfekte Paar gewesen. Er hatte immer ein Foto von ihr in seiner Brieftasche und schloss sie in seine Gebete mit ein. Feuchte Träume blieben nicht aus. Danach fühlte er sich zwar erschöpft, aber auch rein und erleichtert. Er dankte Gott, seinem Herrn und Schöpfer, für die Gnade, die ...". Man sieht, katholischen Priestern graut es vor gar nichts. Apropos katholisch, es sind nicht, wie im Buch genannt, 500 Milliarden Euro, die der deutschen katholischen Kirche nach Schätzungen als Besitz zugeordnet werden sondern nur 270 Milliarden Euro. Das ist zwar immer noch schlimm genug, aber schon eine nennenswerte Differenz.
Also ich gebe für den Amüsierfaktor 5 Sterne und als Bewertung nur einen.
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