12.05.2021 19:52

"Die wunderbare Kälte" von Elisabeth Rettelbach - Ein irres Buch!

Eigentlich habe ich die ganze Zeit während des Lesens überlegt, ob ich das Buch nicht beiseite legen soll. Da berichtet eine sehr autistisch veranlagte junge Frau namens Charlotte, genannt Kai von ihren mehr als außergewöhnlichen Gedankengängen und Gefühlen. So etwas ist an sich nicht meine Literatur.
Sie hat kein gutes Verhältnis zu ihren Mitmenschen, ihr fehlt Empathie. Sie wollte Regisseurin werden und müssen sich Regisseurinnen nicht wie Gottheiten fühlen, die ihren Akteuren sagen, was sie zu fühlen haben und wie sie das tun sollen, weil die das selbst nicht wissen?

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Sie sieht das Treiben der anderen Menschen um sie herum von oben, wie eine Biologin die auf einen Ameisenstaat blickt. Dabei fühlt sie sich dem Ganzen überlegen und möchte wie eine Regisseurin oder besser Göttin die Geschicke Anderer lenken beziehungsweise wie eine Biologin die Ameisen so beeinflussen, dass sie das tun, fühlen und so wirken, wie es die Biologin zur Erreichung ihrer Ziele für sinnvoll hält..
„Ich fühlte mich großartig, die Herrscherin über Leben und Tod.“, äußert Kai eines ihrer Gefühle, immer wenn ihre "Ameisen" das tun und so wirken, wie sie es geplant hatte.
Wie eine Göttin drängt sie einigen ihrer untergeordneten Wesen Gefühle gegenüber anderen untergeordneten Wesen auf. Sie steckt Passanten, denen sie zufällig begegnet, Zettel mit Hinweisen auf ein Chatportal zu, wo sie die Äußerungen von zwei auf diese Art geköderter Personen entgegennimmt und über Kreuz so beantwortet, als würden beide direkt miteinander chatten. Mit Andeutungen, die erotische Beziehungen in Aussicht stellen, veranlasst sie sie, sich gegenseitig online zu „unterhalten“ bis hin zu realen Verabredungen, zu denen sie beide im Namen des jeweils anderen einlädt. Die realen Treffen beobachtet sie, wie es eine Regisseurin bei der Vorstellung täte, als unerkannte Zuschauerin, stolz auf ihr Werk.
Eines Tages geht sie zu einer Lesung. Die lesende Autorin reagiert auf einen Spätankömmling so, dass Kai sicher ist, dass beide miteinander eine Beziehung hatten, die gestört ist oder nicht mehr besteht. Sie macht sich die Wiedervereinigung der beiden zum Ziel, nur kommen ihr unbeabsichtigt sehr intensive eigene Gefühle zu beiden in die Quere. Sie verliebt sich in die Frau und auch den Mann.
Sie meint gottgleich, die Situation trotzdem zu beherrschen, doch sie rutscht mit dem männlichen Probanden, Milo heißt er, nun selbst in eine Liebesbeziehung, die sie immer wieder durch autistische Distanziertheit zu verhindern versucht. Sie geht sehr weit, um den beiden deren alte Gefühle füreinander wieder aufzufrischen. Doch während sie auf dem Weg zu ihrem Ziel ist, gibt sie Milo dann doch nach. Ihre Schwester gab ihr den Rat „Hinterher heulen ist immer noch besser, als gar nichts erleben.“

Das was mit ihr passiert, ist gänzlich gegen ihr Naturell. Sie liebt die Einsamkeit, das Lenken Anderer, die Kälte und den Winter. Deshalb arbeitet sie gegen ihre Beziehung mit Milo, obwohl sie die Beziehung mit ihm genießt. „Kalte Winternächte werden ja wohl nicht wärmer, nur weil man zu zweit geht.“, ist ihr Statement, von dem man nicht weiß, ob sie es nun selbst noch glaubt. Sie manipuliert ihn und seine Ex. Sie will ihre Regie unbedingt wie geplant zu Ende bringen.
Bis zum Schluss zieht sie ihre "Regietätigkeit" durch und erreicht damit … Aber bitte lesen Sie selbst. Legen Sie dieses irre Buch nicht mittendrin beiseite, falls Sie dazu überhaupt in der Lage wären. Ich habe es nicht gekonnt und bin froh darüber.