22.05.2021 19:14

Einer der 36 Gerechten! - "Viktor" von Judith Fanto

Viktor war einer der 36 Gerechten, die sich immer auf der Welt befinden und in deren Händen der Fortbestand unserer Welt lag und liegt. Und Viktor war ein Kleinkrimineller, der alles anfing und nichts abschloß. Wer kennt nicht wenigstens einen Menschen, der eine besondere Ausstrahlung hat, dem alles zufällt, der Frauen erobert, trotzdem er ein Schlawiner ist und der sich so - manchmal auch auf mäandernden Wegen - mit Chuzpe durch das Leben schwindelt. So war Viktor das schwarze Schaf der Familie Rosenbaum. Genau wie seine Familienmitglieder war er Jude in Wien zur Zeit des Dritten Reichs. Sein Vater Anton hatte ein steifes Bein aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht, für ihn war es selbstverständlich, für Österreich in den Krieg zu ziehen.

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Zu dieser Zeit wurde nicht nur die Kultur in Österreich von jüdischen Österreichern und Österreicherinnen getragen, sondern auch der Staat. Ärzte, Anwälte, Schauspieler, Komponisten, Literaten und und und waren zum größten Teil Juden. Ohne sie hätte es keinen Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Joseph Roth, Karl Kraus ... gegeben. In hohen Posten, als Beamte und Geschäftsleute im heute so genannten oberen Mittelstand überwogen jüdische Gelehrte, Mediziner, Kaufmänner, Anwälte. Die Kinder dieser Intelligenz- und Besitzendenschicht, machten selbstverständlich ihre Matura, studierten und promovierten. Und diese Schicht hatte dasselbe unerschütterlice Grundvertrauen in Staat, Gesetz und Obrigkeit, wie wir es heute nicht mal mehr in dem Maße haben. Doch Viktor war aus der Art geschlagen, zwei Studienrichtungen brach er ab, seine Geschäftsideen hatte häufig einen haut-goût, waren wenigstens zweifelhafter Natur. Als dann seine nahe Umgebung ungläubig feststellen musste, dass ihnen ihr Grundglauben entzogen wurde, war es für Viktor kein Problem "alternative Methoden" anzuwenden. Es machte ihm nichts aus, die Uniform eine SS-Oberscharführers zu tragen, um seine Eltern zu retten oder den rechten Arm hochzureissen und "Drei Liter!" zu brüllen, wenn ihm ein "jagdlustiger" Trupp SA-Männer entgegenkam.
Schon seit langem versuche ich zu verstehen, wie es dazu kommt, dass Menschen - egal ob Juden, Christen oder anderen Religionen Zugehörige genau das machen, was ihnen andere "Menschen" vorgeben, obwohl sie wissen, dass die Konsequenz ihr sicherer Tod ist.
"Ein SS-Mann trat mit solcher Wucht meinen Gehstock weg, dass ich stürzte. "Aufstehen, los!" brüllte er, und das wäre mir auch gelungen, hätte er mich nicht weiter ... malträtiert. Wenn ich mich an diese Szene erinnere ... ist mir ... erinnerlich, dass ich mich wunderte, denn die meisten von uns wären sicherlich in den Zug gestiegen, hätte man sie einfach nur darum gebeten." fertigte Viktors Vater vorsichtshalber ein Protokoll an über seine Deportation in ein KZ.
Viktors Vater war Anwalt, der seinen Beruf liebte, aber niederlegte, nachdem im klar wurde, dass das Gesetz, so wie er es verstanden hatte, nicht mehr funktionierte. Ihm wurde mit juristischer Impertinenz erklärt, dass er grundsätzlich einen Rechtsanspruch gehabt hätte, der aber durch sein Judentum außer Kraft gesetzt worden ist.
Ich will nicht zu viel verraten außer, dass das Buch im Wechsel zum einen die Geschehnisse im Wien zur Zeit des "Anschlusses" am Schicksal einer jüdischen Familie beschreibt und zum anderen aus der Ich-Erzählerin-Sicht einer jungen Frau als einer der aktuellsten Zweige am Stammbaum "Rosenbaum" um 1995.
Die junge Geertje ist Tochter im Haus van der Berg, wie sich ein überlebendes Ehepaar aus der Familie Rosenbaum in Belgien und Holland nennt. Sie sind zum Katholizismus konvertiert und blenden alles, was jüdisch an ihnen wirken könnte, aus und sie blenden auch die Geschichte aus, die zu ihrem Überleben geführt hat. Geertje, die sich später Judith nennt, nimmt die versteckten Fäden des Webteppichs der Generationen "Rosenbaum" wieder auf, um ihn weiter zu weben.
Und nun verstehe ich, warum Anton schrieb: "Die meisten von uns wären in den Zug gestiegen, hätte man sie nur darum gebeten." und auch, warum ein Schlitzohr, Womanizer und Kleinkrimineller einer der 36 Gerechten sein kann. Ich verstehe es, weil ich in ähnlicher Lage auch so funktionieren würde und ich zum Überleben auf einen wie Viktor und dessen Chuzpe angewiesen wäre.
Es ist das Buch geworden, das mir nach Sebastian Haffners "Geschichte eines Deutschen", Stefan Zweigs "Die Welt von Gestern" und vor allem nach Elias Canettis "Die gerettete Zunge" bisher gefehlt hat. Es füllt eine Lücke in meinem Gesamtbild des 20. Jahrhunderts und es wurde in einem Stil verfasst, den ich von den älteren Kollegen her kenne und hier nun auch in zeitgemäßerer Form mag.